vaeter-trauer.de
Leseprobe
http://leseprobe.html

© 2014 vaeter-trauer.de
 

Leseprobe - Erfahrungsbericht

Ein Schmerz, den man(n) nicht in Worte fassen kann


Ich saß im Wohnzimmer vor meinem Computer auf dem Boden und machte etwas im Internet. Meine Freundin, die mittlerweile meine Frau ist, kam aus der Toilette und setzte sich grinsend zu mir auf den Boden. Sie sah mich an und sagte ganz locker: „Du, Dominik, ich bin schwanger“ und zeigte mir gleichzeitig den positiven Schwangerschaftstest. Ich war erstmal völlig baff und hielt das ganze für einen Scherz, aber schnell merkte ich, dass sie es ernst meinte und sich sehr darüber freute. Auch ich freute mich darüber, nur erst etwas später. Natürlich wollte ich auch Kinder haben, aber jeder Monat mehr (ohne Kinder) machte mich nicht traurig. Sie war natürlich sehr glücklich über diese Nachricht und freute sich ungemein darüber, allein schon weil sie sich insgeheim schon lange ein Kind von mir wünschte. Endlich war es also so weit. Nach ein paar Minuten realisierte ich immer mehr, dass ich Vater werden würde und freute mich auch jede Minute mehr darüber. Noch am gleichen Tag redeten wir viel über die bevorstehende Elternschaft, obwohl „wir“ erst in der vierten Woche waren. Für den Abend hatten wir bereits unabhängig von der Schwangerschaft ein Essen in einem thailändischen Restaurant geplant und nutzten das zu einem „Freudenfest“. Wir waren so glücklich und aufgeregt, dass wir es irgendjemandem erzählen wollten. Kurzerhand entschlossen wir uns, noch am selben Abend meine Eltern zu besuchen, denen wir mittels einer kleinen Überraschung von der Schwangerschaft erzählten. Uns war von Anfang an wichtig, nur unseren Eltern davon zu erzählen. Geschwister, Verwandte und Freunde wollten wir erst einweihen, wenn die Schwangerschaft „sicher“ war, also etwa ab dem dritten Monat.


Wir freuten uns sehr darauf, Eltern zu werden und planten schon alles Nötige: Wo das Bett und die Wickelkommode stehen würde, welcher Kindersitz der Sicherste sein würde, welcher Kinderwagen geeignet wäre und wie wir uns die Arbeit teilen würden, da Melanie wieder ein bisschen arbeiten gehen wollte, wenn unser Kind ein Jahr alt sein würde.


Als der dritte Monat erreicht war, vielleicht auch schon ein bisschen davor, erzählten wir allen Verwandten und Bekannten und jedem, den es interessierte, oder auch nicht von unserem Glück. Wir waren sehr glücklich darüber, keinerlei missbilligende Worte zu hören. Alle freuten sich sehr mit uns!


Dann kam Karfreitag 2006. Ich weiß nicht mehr genau in welcher Schwangerschaftswoche es war, die zwölfte oder dreizehnte. Praktisch alle die wir kannten, wussten es. Ich hatte im Geschäft schon nach Sonderurlaub für die Zeit nach der Geburt gefragt. Wir verbrachten den ganzen Tag faul zuhause. Abends waren wir mit Melanies Tante und deren Freundin zu einem Flamenco-Gottesdienst in der Heidelberger Altstadt verabredet. Da wir spät dran waren, bekamen wir schlechte Plätze und außerdem war es in der Kirche ziemlich kalt. Um besser sehen zu können, stand Melanie fast den ganzen Gottesdienst, etwa zweieinhalb Stunden, etwas weiter vorne. Nach dem Gottesdienst gingen wir noch eine Kleinigkeit trinken. Zuhause angekommen fielen wir erstmal müde aufs Sofa und unterhielten uns über die gesammelten Eindrücke vom Gottesdienst und dem Abend.

Es war etwa halb eins als Melanie aus der Toilette kam, und mir mit sorgenvollem Gesicht sagte das sie eine leichte Blutung hätte.

Ich erschrak sehr, doch sie beruhigte mich sofort damit, dass es ihr gut ginge und dass sie fühlte dass es auch dem Baby gut ginge. Melanie hatte die ganze Schwangerschaft über eine große Bindung zu ihrem Bauch und dem Baby darin. Obwohl Sie fast keinerlei Beschwerden wie Übelkeit und so weiter hatte, fühlte sie sich sehr schwanger. Trotzdem wollte Sie nur zur „Sicherheit“ in die Klinik fahren und alles abchecken lassen. Wir hatten ein anstrengendes Wochenende vor uns. Am nächsten Tag war die Taufe meines Cousins, bei der wir zum ersten Mal auf alle Verwandten treffen sollten, die wir bis dahin nur telefonisch informiert hatten und Tags darauf wollten wir zu Melanies Opa fahren, der als Letzter noch nichts wusste.


Also machten wir uns auf den Weg in die Universitäts-Klinik Mannheim. Wir wollten nur ruhig schlafen können, einmal kurz das Kind im Ultraschall sehen, sehen, wie das kleine Herz klopft und danach schnell wieder nach Hause.


Als wir dort ankamen, mussten wir erstmal eine ganze Weile warten, bis ein Arzt kam. In dieser Zeit stieg die Anspannung. Während ich das Ganze noch recht gelassen sah, stieg in Melanie die Angst, dass wirklich etwas nicht stimmen könnte. Ich merkte erstens, wie sehr sie mich jetzt brauchte und zweitens, dass auch meine eigene Angst zunehmend größer wurde. Wir fingen schon an zu diskutieren was wäre wenn, wem müsste man bescheid geben, wieso es passiert sein könnte und so weiter und so weiter.

Nach einer ganzen Weile sorgenvoller Diskussion kam eine junge Assistenzärztin, die uns in ein Behandlungszimmer führte. Nach den Formalitäten und den ersten Fragen zur Schwangerschaft war die Ultraschalluntersuchung dran.


Ich merkte, wie meine Hände kaltschweißig und ich immer nervöser wurde.

Aber immer noch vertraute ich auf Melanies Gefühl, dass alles in Ordnung sei. Ich stand am Kopfende, hielt ihre Hand und wartete darauf, dass die Ärztin sagte:

„Da sind die Füße, da die Hände und da das schlagende Herz. Alles in Ordnung. Bettruhe. Auf Wiedersehen und gute Nacht.“


Aber mit jeder Sekunde, die verstrich stieg meine Anspannung und Angst. Ich weiß nicht, wie lange die Untersuchung ging, aber für mich dauerte es eine Ewigkeit, während ich immer panischer wurde. Als die Ärztin dann erneut den Ultraschallkopf ansetzte, wusste ich, dass etwas nicht stimmte und dass sie verzweifelt nach dem Baby suchte.


Kurz darauf gab sie auf und teilte uns mit, dass sie keine Schwangerschaft mehr feststellen könne, noch nicht einmal ein vollständiges Baby finden könne.


Obwohl ich es nach der langen Untersuchung schon ahnte, trafen mich ihre Worte wie ein Hammer.

Melanie drückte meine Hand und ich hatte das Gefühl das etwas in meinem Kopf zusammen stürzte.

Mir wurde schwarz vor Augen und ich konnte nicht mehr hören, was die Ärztin zu uns sagte.

Ich umklammerte Melanies Hand und stand einfach nur da ohne die Umwelt wahr zu nehmen.


Kurz darauf erschien ein verschlafener und mies gelaunter Oberarzt, der die Diagnose der Assistenzärztin bestätigte und meiner Freundin gleichzeitig irgendwelche dummen Vorwürfe machte. Was danach geschah, weiß ich nicht mehr so genau. Die Ärzte forderten uns auf, am nächsten Tag für eine Ausschabung wieder zu kommen und wir gingen.

Auf der Fahrt nach Hause sprachen wir nicht viel.


Erst als wir die Wohnungstür hinter uns schlossen, kam alles aus uns heraus: Melanie begann zu weinen und ich merkte wie sehr sie mich jetzt brauchte.

Ich selbst war immer noch wie in einem Trancezustand, konnte und wollte nicht wahr haben, was soeben geschehen war.

Uns wurde mitgeteilt, dass uns Kind tot war, und das nicht erst seit gestern, sondern schon eine ganze Weile und Melanies Körper hatte schon damit begonnen es zu „resorbieren“.

Es war unglaublich: Alles wovon ich geträumt hatte löste sich in Luft auf!

Ich merkte, dass ich meine Umwelt nicht mehr wahrnahm.

Alle meine Träume und meine Freude mit unserer Tochter Runa fielen zusammen wie ein Kartenhaus.

Ich fühlte mich als ob ich schwebte.

Mein Geist schwebte durch den Raum.

Das konnte nicht wahr sein.

Warum?

Warum wir?

Wieso jetzt?


Wenn ich so zurück denke, kann ich gar nicht glauben, dass ich zu dieser Zeit wach war, ich war wie hypnotisiert oder wahrscheinlich traumatisiert.


Zuhause angekommen wollten wir nur noch schlafen, doch im Bett fingen wir an zu reden. Stundenlang. Wir machten uns keine Vorwürfe, sondern es ging die ganze Zeit darum, was jetzt alles nicht mehr möglich war.

Welche Träume sich in Luft aufgelöst hatten.

Wir redeten bis um vier Uhr in der früh, bis wir nicht mehr konnten und erschöpft einschliefen.


Als ich vom Wecker aufwachte, traf es mich wieder mit einer unvorstellbaren Wucht:

Unser Kind ist tot!

Warum?

Ich wollte einfach liegen bleiben, in der Hoffnung, dass alles wieder normal wird!


Aber wir wussten beide, dass wir gehen mussten. Im Krankenhaus ließen wir dann all die üblichen Aufnahmeprozeduren über uns ergehen. Erst als wir in einem Krankenzimmer saßen, mit einer älteren noch schlafenden Frau im Zimmer, wussten wir, dass es kein zurück mehr gab. Als ich dort saß, wurde mir klar, dass es wirklich passiert war und dass ich jetzt die schwierigste Aufgabe zu bewältigen hatte: Alle vom Tod unseres Kindes zu informieren!


Bei unseren Freunden machte ich es mir sehr einfach, indem ich sie nur per SMS informierte. Aber unseren Familien musste ich persönlich bescheid sagen. Wir verließen das Krankenhaus und ich rief bei meinen Eltern an. Meine Mutter ging ans Telefon und ich sagte ihr, dass wir nicht zur Taufe meines Cousins kommen könnten, da wir unser Kind verloren hatten.

Sie begann sofort zu weinen und sich nach dem Warum zu informieren, aber auf diese Frage hätten wir nur zu gerne selbst eine Antwort gehabt. Ich berichtete ihr kurz, was passiert war und versuchte dann so schnell wie möglich das Gespräch zu beenden, weil ich merkte wie auch mir die Tränen in die Augen schossen und ich nicht mitten in der Öffentlichkeit wie ein Schlosshund losheulen wollte.

Melanie informierte Ihre Mutter und auch Sie musste sich zusammen reißen, nicht laut loszuheulen.

Wir nahmen uns vor, alle anderen mit einer selbst gestalteten Karte zu informieren, was uns im Nachhinein sehr entlastete.


Als das Notwendige getan war, gingen wir wieder zurück aufs Zimmer. Wir waren wegen der kurzen Nacht beide sehr erschöpft. Während Melanie versuchte, ein wenig zu schlafen, ging ich nach Hause, um verschiedene Dinge zu erledigen.


Nach circa zwei Stunden war ich wieder im Krankenhaus und sobald ich wieder da war fing Melanie heftig an zu weinen und ich nahm sie in den Arm. Der Tod von Runa hatte uns den Boden unter den Füßen weggerissen und wie in der Nacht wurde mir mit jeder Minute bewusster, was passiert war und wie hilflos ich dem gegenüber stand. Ich musste bei Melanie sein und ihr Rückhalt geben und gleichzeitig wusste ich selbst nicht, wohin mit meiner Trauer und Wut. Ich kann nicht sagen, worüber oder über wen ich wütend war, aber ich fühlte mich sehr wütend.


Zur Vorbereitung auf den Eingriff hatte Melanie ein Medikament bekommen, das den Muttermund öffnet. Dadurch blutete sie stark und verlor immer wieder „Gewebsbrocken“ bzw. „Teile unseres Kindes“, die dann in der Toilette lagen. Man hatte uns gesagt, dass unser Kind „zu klein“ wäre, als dass wir es beerdigen hätten dürfen. Für uns war es jedoch wichtig Runa zu begraben um einen Ort zu haben, an den wir uns in unserer Trauer zurückziehen können. Also nahm Melanie immer wieder, wenn Sie auf Toilette ging, etwas davon mit was wir am Tag darauf in einem Park in Mannheim unter einem Baum vergruben.


Den ganzen Tag über riefen unsere Mütter an, um sich nach Melanie zu erkundigen. In einem kurzen Satz fragten sie auch wir es mir ginge, aber mehr als einmal hörte ich, dass ich mich jetzt um Melanie kümmern und für sie da sein müsse. Am späten Nachmittag war es dann soweit. Eine Schwester brachte sie in den OP und ich ging nach Hause, um dort zu warten bis sie wieder auf Station war.

Nach etwa zwei Stunden rief mich die Stationsschwester an und teilte mir mit, dass Melanie wieder wohlbehalten auf Station angekommen war. Als ich im Zimmer ankam, fand ich eine komplett ausgewechselte Melanie vor. Sie war noch ein wenig müde aber durch die Medikamente richtig gut drauf und überhaupt nicht mehr traurig was mir sehr half, da sie jetzt nicht mehr so stark meine Unterstützung benötigte, zumindest so lange die Medikamente noch ein bisschen wirkten. Als wir von der Stationsärztin das okay bekamen, gingen wir sofort.

Wegen der Narkose durfte meine Freundin den ganzen Tag nichts essen und hatte jetzt schrecklichen Hunger. Zusammen mit ihrer Tante gingen wir etwas essen und zum ersten Mal sprachen wir nicht über den Tod unseres Kindes was mir, obwohl es erst vor so kurzen passiert war, sehr gut tat.


Erst als wir abends zusammen im Bett lagen, weinten wir wieder um unser Kind.


Es ist ein Schmerz, den man nicht in Worte fassen kann.


Ich glaube, dass der Verlust, den wir erleiden mussten nicht so schlimm ist, wie wenn Eltern Ihr Kind bereits in den Armen halten durften. Ich denke, dass jeder Tag, den man mit dem Kind erlebt hat die Trauer vergrößert. Deshalb kann und will ich mir den Schmerz, den andere Eltern erleben gar nicht vorstellen. Es muss ungeheuerlich sein.


Was uns in unserer Beziehung und in unserer Trauer sehr geholfen hat, war eine kleine Gedenkfeier im engsten Familien- und Freundeskreis am Entbindungstermin unserer Runa. Ich denke, ich kann auch für meine Frau sprechen, wenn ich sage, dass wir jedem Paar empfehlen würden, zu dieser Zeit etwas Ähnliches zu machen. Man ist in dieser Zeit ohnehin wieder stark mit dem eigenen Kind verbunden und uns hat es sehr gut getan in unserer Trauer nicht alleine zu sein.


Wieso kann so etwas passieren?

Wieso lässt Gott so etwas zu?

Ich habe eine ganze Weile gebraucht um diese wenigen Sätze zu schreiben, weniger aus Trauer als vielmehr aus Faulheit. Umso mehr Gedanken habe ich mir aber über das Geschehene und Erlebte gemacht.


Ich glaube, dass Gott für jeden Menschen einen Plan hat, nur für uns Menschen mag dieser Plan manchmal wenig Sinn ergeben. Auch mir stellte sich natürlich die Frage nach dem Warum. Heute, gut eineinhalb Jahre danach, kann ich jedoch sagen, dass ich sehr viel aus dieser schwierigen Zeit mitgenommen habe und Gott (fast) dankbar für diese Erfahrung und sehr dankbar für seinen Rückhalt bin, den ich in dieser Zeit gespürt habe. Viele Dinge haben sich mir dadurch erst eröffnet, die mir sonst im Verborgenen geblieben wären. Ich wäre ihm natürlich auch sehr dankbar dafür, das alles nie wieder erleben zu müssen.

Und doch hat es mir in meinem Leben und meiner Entwicklung, ein verständnisvollerer Mensch zu werden, sehr geholfen. Davor konnte ich nicht so recht begreifen, dass Eltern ihr ungeborenes Kind betrauern, weil ich mir dachte, dass es ja nicht so schlimm sein kann, da sie das Kind doch noch gar nicht kannten.


Heute weiß ich, dass es nicht so ist.


Man trauert in diesem speziellen Fall wohl weniger um den Menschen, als um all die persönlichen Wünsche und Träume, die man für sich und seine eigene kleine Familie hatte.


Dominik Rihm